Die täglich geleistete Arbeitszeit gibt Aufschluss über Überstunden und Mindestlohnvergütung, für deren Nachweis bis dato der Arbeitnehmer verantwortlich war. Das jüngste Urteil des EuGH zur Arbeitszeiterfassung dürfte dies maßgeblich verändern.
Durch die Presse werden Sie sicher davon erfahren haben, dass der Europäische Gerichtshof im Urteil vom 14.05.2019 (Az. C-55/18) entschieden hat, dass jeder Arbeitgeber verpflichtet ist, für jeden Arbeitnehmer ein System zur Erfassung der täglich geleisteten Arbeitszeit einzurichten.
Der Europäische Gerichtshof kommt zu dem Ergebnis, dass die Mitgliedstaaten die Arbeitgeber verpflichten müssen, ein objektives, verlässliches und zugängliches System einzuführen, mit dem die von jedem Arbeitnehmer täglich geleistete Arbeitszeit gemessen werden kann. Nationales Recht, das diese Verpflichtung nicht vorsieht, verstößt gegen die Arbeitszeitrichtlinie, die im Lichte der Europäischen Grundrechtecharta (Art. 31 II GRCh) und der Arbeitsschutz-Rahmenrichtlinie auszulegen ist.
Nun könnte man meinen, dass diese Entscheidung des Europäischen Gerichtshofes derzeit keine praktische Relevanz hat. Denn der europäische Gerichtshof hat schließlich ausdrücklich die Gesetzgeber aufgefordert, entsprechende gesetzliche Änderungen vorzunehmen. Dies ist jedoch falsch:
Zunächst ist – entgegen den Äußerungen von verschiedenen Verbandsfunktionären und Politikern - ganz klar darauf hinzuweisen, dass eine Gesetzesänderung durch die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs auch für Deutschland zwingend erforderlich ist.
Der Europäische Gerichtshof hat klargestellt, dass grundsätzlich für alle Arbeitnehmer die tägliche Arbeitszeit vollständig zu erfassen ist und nur ausnahmsweise in Einzelfällen eine solche Aufzeichnung unterbleiben kann.
In Deutschland ist die Arbeitszeit derzeit jedoch nur für Minijobs und die in § 2a Schwarzarbeitsbekämpfungsgesetz genannten Wirtschaftszweige vollständig aufzuzeichnen. Für alle anderen Arbeitnehmer ist nach den Regelungen des Arbeitszeitgesetzes die Arbeitszeiterfassung nur hinsichtlich der Überstunden und der Arbeit an Sonn- und Feiertagen vorgeschrieben. In allen übrigen Fällen muss die Arbeitszeit nicht erfasst werden.
Damit ist die derzeitige Rechtslage in Deutschland genau umgekehrt, wie es der Europäische Gerichtshof fordert. Bei uns wird nur ausnahmsweise Arbeitszeit dokumentiert und im Regelfall nicht. Daher ist eine Gesetzesänderung zwingend erforderlich. Wann der Gesetzgeber das Gesetz ändert, ist derzeit nicht bekannt.
Gleichwohl hat diese Entscheidung schon jetzt Relevanz im Hinblick auf die Frage der Darlegungs- und Beweislast für die vom Arbeitnehmer geleistete Arbeitszeit.
Nach der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts muss der Arbeitnehmer sowohl für den Fall einer Klage auf Überstundenvergütung als auch auf Mindestlohnvergütung oder der Bezahlung der vertragsgemäßen Arbeitszeit darlegen und beweisen, dass er mit Wissen und Wollen des Arbeitgebers die Arbeitsleistungen erbracht hat. Der Arbeitnehmer muss also für jeden einzelnen Arbeitstag jede einzelne Arbeitsstunde darlegen und beweisen.
Diese Darlegung und auch die Beweisführung ist ohne entsprechende Aufzeichnungssysteme praktisch nahezu unmöglich. Hinzu kommt, dass viele Arbeitsgerichte keine große Lust haben, teilweise für hunderte Arbeitsstunden und mehr Beweis für jede einzelne Stunde zu erheben. Deshalb wird versucht, diese Beweisaufnahme dadurch auszuhebeln, dass die Gerichte unter teilweise fadenscheinigen Begründungen die Darlegungen des Arbeitnehmers zu den erbrachten Arbeitszeiten für nicht ausreichend erachten.
Dies alles führt im Ergebnis dazu, dass bisher Prozesse auf Mindestlohnvergütung und Überstundenvergütung für Arbeitnehmer äußerst schwer zu führen sind und es deshalb auch nur eine überschaubare Anzahl solcher Klagen gibt.
Durch die Verpflichtung des Arbeitgebers, die Arbeitszeit genau nachzuweisen, kann sich dies in Zukunft ändern:
Die Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts zur Darlegungs- und Beweislast war schon vor der Entscheidung des EuGH nicht unumstritten. Nunmehr bietet das Urteil des EuGH den Arbeitsgerichten die Chance, die Darlegungs- und die Beweislast für die (Nicht-) Erbringung von Arbeit nicht dem Arbeitnehmer, sondern dem Arbeitgeber zuzuweisen. Zumal die Ausführungen des EuGH darauf hindeuten, dass auch der EuGH die Darlegungs- und die Beweislast für die (Nicht-) Erbringung von Arbeit beim Arbeitgeber sieht.
Somit ist damit zu rechnen, dass schon jetzt einige Arbeitsgerichte in Prozessen auf Überstundenvergütung und Mindestlohn die Darlegungs- und Beweislast für die Erbringung der Arbeitsleistung nicht mehr beim Arbeitnehmer, sondern beim Arbeitgeber sehen werden. Damit trägt letztendlich der Arbeitgeber das Risiko, keine Kenntnis mehr darüber zu haben, wie der Arbeitnehmer nun ganz genau an jedem einzelnen Tag gearbeitet hat.
Deshalb sollte jeder Arbeitgeber überlegen, ob es nicht schon jetzt möglich und sinnvoll ist, die Arbeitszeit der Arbeitnehmer zu erfassen. In jedem Fall sollten Aufzeichnungen angefertigt werden, wenn der Arbeitnehmer weniger als die vertraglich geschuldete Arbeitszeit leistet (wenn er also früher geht oder später kommt).